Kunstwerk, das ein Kaleidoskop darstellt
Eine Ausrichtung nach Bedarfen, Transparenz und Dialog sind wichtige Bedingungen dafür, dass Evaluationsprozesse im Präventionsfeld islamistischer Extremismus erfolgreich verlaufen. | Foto: Thyla Jane auf Unsplash

Evaluationsbedarfe der Praxis: Ergebnisse einer Bedarfsabfrage im Präventionsfeld Islamistischer Extremismus

Die große Mehrheit der deutschen Präventionspraxis im Bereich Islamistischer Extremismus steht der Evaluation und wissenschaftlichen Begleitung von Maßnahmen grundsätzlich offen und positiv gegenüber. Mehr als die Frage nach dem „Ob“ steht das „Wie“ im Zentrum. Es gibt den Wunsch nach stärker bedarfsorientierten Evaluationsformaten, die so gestaltet werden, dass sie Perspektiven und Erfahrungen der evaluierten Praxis systematisch miteinbeziehen. Das vorliegende Spotlight präsentiert erste Zwischenergebnisse einer umfangreichen Abfrage zu Evaluationserfahrungen und -bedarfen, die unter Maßnahmenträgern im Präventionsfeld islamistischer Extremismus in Deutschland durchgeführt wurde.

Evaluation und wissenschaftliche Begleitung nehmen aus Sicht der Fachpraxis der Extremismusprävention eine wichtige Funktion ein: Sie gewähren Reflexionsmöglichkeiten über das eigene Handeln, dienen der Erweiterung der fachlichen Kompetenzen und bieten die Chance, die eigene Arbeit wissenschaftlich fundiert darzustellen. Um einen Überblick über die Evaluationserfahrungen, -bedarfe und -anforderungen der deutschen Präventionslandschaft im Bereich des Islamistischen Extremismus zu gewinnen, wurde in Kooperation des PrEval-Projekts mit dem Kompetenzzentrum Islamistischer Extremismus1 zwischen Sommer und Herbst 2020 eine Bedarfsabfrage der deutschen Trägerlandschaft durchgeführt. Dabei wurden 219 Personen kontaktiert, die bei staatlichen oder zivilgesellschaftlichen Trägern zum Phänomenfeld Islamistischer Extremismus arbeiten. 106 Antworten zum Thema Professionalisierung und wissenschaftliche Begleitung gingen ein (Rücklaufquote von 43%). Die Bedarfsabfrage wurde durch Workshops und eine semi-strukturierte telefonische Nachbefragung im Februar und März 2021 ergänzt.

Unter Berücksichtigung von Mehrfachnennungen geben 20% der Befragten an, in der Tertiärprävention zu arbeiten und 35% in der Sekundärprävention. Eine Mehrheit von 89% verortet sich (zudem) im Bereich der klassischen politischen Bildung, der Jugend- und Sozialarbeit und/oder der Primärprävention. 36% legen den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf religiös-begründeten Extremismus, 28% auf phänomenübergreifende Extremismen, 16% auf Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und 24% auf mehrere Präventionsfelder.2 Obwohl mit der durchgeführten Bedarfsabfrage kein Anspruch auf statistische Repräsentativität erhoben werden kann und mit Selektionseffekten in der Stichprobe zu rechnen ist, deckt dieses Bild im Wesentlichen die Schwerpunkte der aktuellen Präventionslandschaft im Phänomenfeld Islamistischer Extremismus ab. Auf dieser Grundlage lassen sich somit evidenzbasiert Evaluationserfahrungen und -bedarfe der Fachpraxis darstellen sowie erste vorläufige Schlussfolgerungen über die Evaluationspraxis und Lernkultur innerhalb der Präventionslandschaft in Deutschland ziehen.

Herausforderungen und Gelingensbedingungen für Evaluation

Der deutschen Präventionslandschaft wird häufig nachgesagt, sie hege eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Evaluationen.3 Die Ergebnisse der Bedarfsabfrage hingegen zeichnen ein gegensätzliches Bild: Die Mehrheit der Befragten gibt an, regelmäßig Evaluationen durchzuführen, seien es interne Selbstevaluationen des Trägers (58%) oder interne Fremdevaluationen (16%). Knapp ein Drittel der Befragten hat Erfahrungen mit Evaluationen, die vom Mittelgeber in Auftrag gegeben wurden. Nur ein Bruchteil (5%) gibt an, dass ihre Arbeit (noch) gar nicht evaluiert wurde – weil finanzielle und zeitliche Ressourcen fehlen oder sich die Projekte noch in der Anfangsphase befinden und Evaluationen noch nicht erprobt bzw. eingeplant sind. Wurden bereits Evaluationen durchgeführt, sind diese für 37% der Befragten zufriedenstellend verlaufen, 12% äußern sich teilweise zufrieden und 13% eindeutig unzufrieden. Eine allgemeine Evaluationsaversion in der deutschen Trägerlandschaft ist somit anhand dieser Daten nicht festzustellen. Wenn sich die generelle Frage nach dem „Ob“ also gar nicht stellt, scheint hingegen das „Wie“ ausschlaggebend zu sein, um die Offenheit von potentiell Evaluierten für die Evaluationspraxis nachzuzeichnen.

Ausgehend von detaillierten Erfahrungsberichten lassen sich Gelingensbedingungen für spezifische Evaluationsformate identifizieren. Geschätzt wird erstens ein praxisbegleitender Ansatz, bei dem Gegenstand, Methoden sowie Ziel und Zweck der Evaluation vorab unter Auftraggeber.innen, Evaluierten und Evaluierenden diskutiert werden. Zweitens stellen die Befragten die Bedeutung von qualitativen Indikatoren und multimethodischen Herangehensweisen heraus, um die vielfältigen Zielsetzungen und Aktivitäten der Maßnahmen abzubilden und Veränderungen bei den Zielgruppen (auch über längere Zeiträume hinweg) systematisch zu erfassen. Drittens sollten auch gesellschaftliche und sozialräumliche Veränderungen, etwa Prozesse politischer Polarisierung oder angepasste Zugänge zur Zielgruppe, stärker in den Blick genommen und intendierte wie nicht-intendierte Wirkungen der Arbeit berücksichtigt werden. Schließlich werden solche Evaluationen als gelungen empfunden, die zu konkreten Empfehlungen für Projekt- und Programmanpassungen führen.

Auch die Einordnung interner Evaluation im Vergleich zu externer lässt einige Rückschlüsse zu: Interne Evaluationen können die Kommunikation zwischen Projektleitung, Projektteam und internen Evaluierenden verkürzen und damit den Blick für arbeitspraktische, datenschutzrechtliche und organisationsspezifische Aspekte schärfen. Auch der Zugang zu und Umgang mit sensiblen Daten wird dadurch vereinfacht. Jedoch fehlen einigen Trägern sowohl die finanziellen und zeitlichen Ressourcen für die Durchführung solcher Evaluationen wie auch die fachliche Unterstützung zur Formulierung von Indikatoren und konkreten Zielmarken.

Regelmäßige externe Evaluationen sind aus Praxissicht hilfreich, wenn sie tatsächlich bedarfsgerechten Fragen nachgehen und es Reflexionsmöglichkeiten über die Ergebnisse gibt. Wichtig ist dabei, dass Evaluierende Ressourcen für Vertrauensaufbau zwischen allen Beteiligten einplanen und den Evaluationsprozess dialogisch gestalten. Evaluierende sollten einerseits die Auswirkungen auf den Projektalltag während der Erhebungsphase mitberücksichtigen, andererseits gegenüber den Evaluierten transparent mit Zwischenergebnissen umgehen, um auch die Expertise der Praxis bei der Interpretation von Evaluationserkenntnissen einzubeziehen, und sie dabei unterstützen, spezifische Lösungen für identifizierte Herausforderungen zu entwickeln. Idealerweise sehen die Praktiker.innen die Evaluierenden in einer Transferrolle, um Erkenntnisse zu vermitteln, Good Practices zu formulieren und Empfehlungen zeitnah in die Programmarbeit zu integrieren.

Bedarfe für vielfältige Evaluationsformen

Konkrete Bedarfe zu den eingesetzten Evaluationsformaten sind stark kontextabhängig und bedingt durch die spezifischen Methoden- und Zielgruppenzugänge der Maßnahmen selbst oder die jeweilige Projektreife. Wirkungsorientierte Evaluationen konzentrieren sich auf Wirkungen und Effektivität der Maßnahmen, prozessorientierte Formate hingegen auf Arbeitsprozesse, Methoden, Organisations- und Netzwerkstrukturen. Formative Formate finden begleitend zu den Maßnahmen statt und haben das Ziel, laufende Maßnahmen zu verbessern. Summative Formate zielen darauf, eine Zwischenbilanz bei Fortbestehen einer Maßnahme zu ziehen oder als abschließende Evaluation Entscheidungen zu Fortführung, Ausweitung und/oder Anpassung zu begründen.4 Insgesamt zeigen sich die Befragten vor allem an formativen Evaluationen interessiert, sind offen für prozess- und wirkungsorientierte Formate (Grafik 1). Prozessorientierte Formate werden insgesamt häufiger als zielführend empfunden als wirkungsorientierte. Die Interessen sind unter staatlichen und zivilgesellschaftlichen Trägern proportional ähnlich verteilt.

Auch mit Blick auf den aus Praxissicht idealen Zeitpunkt von Evaluationen spiegeln sich die stark ausdifferenzierte Landschaft und ein Bedürfnis nach individuell angepassten Evaluationsformaten wider (Grafik 2). Ex-ante-Evaluationen finden vor oder zu Beginn der Durchführung von Maßnahmen statt. Sie basieren auf Konzepten, Anträgen und Programmtheorie sowie unabhängiger Datenerhebung bei den Zielgruppen und können z.B. Bedarfe, Realisierbarkeit, Risiken und Erfolgsaussichten analysieren. Begleitende Formate finden während der Durchführung von Maßnahmen statt. Ex-post-Evaluationen finden rückblickend statt und fokussieren z.B. auf Nachhaltigkeit, Transfer und langfristige Wirkungen.5

Balkendiagramm
Grafik 1: Bevorzugte Evaluationsformate
Balkendiagramm
Grafik 2: Bevorzugte Zeitpunkte für die Evaluation

Spezifika im Präventionsfeld Islamistischer Extremismus

Laut einigen Befragten sind die Förderprogramme auf Mittelgeberseite im Zuge der dynamischen Entwicklung des Handlungsfeldes unzureichend analysiert und reflektiert worden. Dies gelte insbesondere für das Phänomenfeld Islamistischer Extremismus, in dem in den vergangenen Jahren vielfältige Fördermöglichkeiten geschaffen wurden und in dem es schnelllebige Veränderungen und Akzentverschiebungen gibt. Neben Effektivität, Effizienz und Wirkung von Maßnahmen sollten demnach als weitere Evaluationskriterien Relevanz und Nachhaltigkeit stärker priorisiert werden.6 In einer langfristig angelegten begleitenden Evaluation könnten etwa die Rahmenbedingungen der Förderkontexte mit Blick auf ihre Nachhaltigkeit analysiert werden. So könnte systematisch untersucht werden, wie anpassungsfähig sie sich gegenüber wandelbaren Kontexten zeigen und wie (angemessen) sie auf gesellschaftspolitische Trends, phänomenspezifische Entwicklungen und Herausforderungen reagieren.

Differenziert man zwischen den verschiedenen Präventionsebenen, zeigen sich weitere Herausforderungen im Bereich Islamistischer Extremismus, die dialogische und kontextspezifische Lösungen erfordern. Bei Maßnahmen der politischen Bildung, der allgemeinen Jugend- und Sozialarbeit und der Primärprävention betonen die Befragten die Notwendigkeit, komplexe qualitative Kriterien für die Beurteilung der Wirksamkeit von Maßnahmen hinzuzuziehen. Auch die Perspektiven der Zielgruppen sollten stärker einbezogen werden. In der Sekundär- und Tertiärprävention wurden in den vergangenen Jahren vielfältige Erfahrungen mit Kooperationsstrukturen zwischen Zivilgesellschaft, staatlichen Koordinierungsstellen und Sicherheitsbehörden gemacht. Hier sei es besonders wichtig, die Triangulation von Erkenntnissen aus mehreren Datenquellen sicherzustellen und alle Beteiligten einzubeziehen, die mit Betroffenen und Klient.innen arbeiten. Dabei seien besondere ethische und datenschutzrechtliche Standards im Umgang mit Klient.innen zu berücksichtigen.

Fazit

Aus Sicht der befragten Präventionspraxis im Bereich Islamistischer Extremismus sind Evaluationen dann erfolgreich, wenn sie konkrete Hinweise und Empfehlungen für die praktische Arbeit liefern können, aktuelle Herausforderungen der (täglichen) Arbeit berücksichtigen und mit organisationalen Lernprozessen verknüpft sind. Der Transfer der (Zwischen-)Erkenntnisse in operationalisierbare Schritte sollte bereits bei der Entwicklung der Evaluationsformate eingeplant werden, damit Evaluierende ihre Expertise auch in die Umsetzung der Empfehlungen einbringen können. Dafür sollte der Dialog zwischen Evaluierten und Evaluierenden priorisiert werden. Nur ein breites Portfolio an Evaluationsmethoden kann die präferierten kontextsensitiven Ansätze ermöglichen. Mittelgeber sollten die Rahmenbedingungen für intensive Begleitung, langfristig angelegte Evaluationen und systematische Analysen schaffen, was auch die Bereitstellung ausreichender finanzieller Mittel explizit für Evaluationen beinhaltet. Diese sollten auch die Relevanz und Nachhaltigkeit von Förderstrukturen mit in den Blick nehmen.


Das PrEval-Projekt beschäftigt sich mit Evaluationsbedarfen, -kapazitäten und -designs in der deutschen Extremismusprävention. Dabei werden unter anderem die Evaluationserfahrungen und -bedarfe der deutschen Fachpraxis systematisch erhoben – sowohl phänomenspezifisch für die jeweiligen Präventionsfelder Islamistischer Extremismus und Rechtsextremismus als auch in vergleichender Perspektive. Die hier vorgestellte Bedarfsabfrage im Bereich Islamistischer Extremismus wurde in Kooperation zwischen PrEval und dem Kompetenzzentrum Islamistischer Extremismus (KN:IX, mehr Infos hier) durchgeführt. Ziel der Umfrage war es, einen Überblick über aktuelle Bedarfe, Trends und Herausforderungen der deutschen Präventionslandschaft im Bereich des islamistischen Extremismus zu gewinnen. Mehr zum PrEval-Projekt.


Download (pdf): Koynova, Svetla (2021): Evaluationsbedarfe der Praxis. Ergebnisse einer Bedarfsabfrage im Präventionsfeld Islamistischer Extremismus, PRIF Spotlight 8/2021, Frankfurt/M.

 

Zu den Fußnoten

 

 

 

 

 


 

Svetla Koynova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Violence Prevention Network (VPN). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Monitoring-, Evaluations- und Lernprozesse, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Radikalisierung.

Svetla Koynova

Svetla Koynova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Violence Prevention Network (VPN). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Monitoring-, Evaluations- und Lernprozesse, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Radikalisierung.

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